Grenzgänger

Grenzen setzt man sich meistens selbst: Die eigene Einstellung bestimmt das persönliche Limit. Lässt man sich von den Umständen bremsen oder nicht? Schreckt man zurück oder überwindet man sich? Wir haben Menschen getroffen, die Herausforderungen angehen. Sie haben so ihr Glück gefunden.
FLIEGEN IM ROLLSTUHL
Petra Kreuz, 59
Nach einem Unfall beim Gleitschirmfliegen ist Petra Kreuz querschnittsgelähmt. Die Leidenschaft für ihren Sport beendete die Verletzung aber nicht. Sie findet sofort einen Weg weiterzumachen.
Ich bin über einen Zufall zum Gleitschirmfliegen gekommen. Durch einen Arbeitskollegen im Jahr 1992. Er wollte damals nach Pakistan zum Gleitschirmfliegen. Dafür brauchte er Geld, und ich half ihm als gelernte Lackiererin, sein Auto hübsch zu machen, damit er es verkaufen konnte. Als Gegenleistung brachte er mir das Fliegen bei. Das fand ich schon immer faszinierend. Ich habe dann schnell den A-Schein gemacht und kurz darauf den B-Schein für Streckenflüge. So konnte ich versuchen, so weit wie möglich zu kommen.
Vier Jahre später habe ich dann den Weltrekord aufgestellt. 160 Kilometer waren das. Vom Hochfelln über den Gerlospass nach Zell am See und wieder zurück zum Hochfelln.
"Wenn ich in der Luft bin, vergesse ich alle Schwierigkeiten. Dann gibt es keine zu engen Türen und keine Stufen. Dann bin ich wieder wie jede andere Pilotin in der Luft. Frei."
2000 hatte ich beim Drachenfliegen in den Dolomiten meinen Unfall. Ich bin gestartet und dann kurz darauf ohnmächtig geworden. So bin ich unkontrolliert gegen eine Felsmauer geknallt und bin seitdem querschnittsgelähmt. Ich bin froh, dass mir das nicht auf der Autobahn passiert ist. Dann hätte ich auch noch andere gefährdet.
Mein erster Gedanke, als ich im Krankenhaus wieder aufgewacht bin: „Wenn ich wieder fliegen kann, ist das alles egal.“ Ich habe mir von der Schwester gleich ein Stück Papier bringen lassen, habe direkt angefangen, meinen eigenen Flugrolli zu planen und hab ihn später mit einem Oldtimerrestaurator gebaut. Viele haben sich gefragt: Warum um alles in der Welt hört sie nicht auf? Aber ich bin ein Dickschädel. Ich kämpfe so lange, bis es geht. Es gibt immer einen Weg und eine Lösung. Selbst wenn es manchmal lange dauert oder teuer ist. Warum sollte ich auch aufhören? Es war ja nicht meine Schuld. Ich bin eine gute Fliegerin. Warum sollte ich etwas aufgeben, was mir Spaß macht und mich erfüllt? Klar könnte jederzeit wieder ein Unfall passieren. Aber wann und wem, weiß halt auch niemand. Da hocke ich in der Zwischenzeit sicher nicht zu Hause rum!
Das Fliegen ist mein Leben. Auch, weil meine ganzer Freundeskreis, mein Umfeld und sogar meine Arbeit (ich verdiente Geld als Tandempilotin und mit den Checks von Schirmen) vorher aus Fliegen bestand. Das hätte ich alles verloren.
Ich war schon immer sehr ehrgeizig. Dass ich jetzt mit dem Rollstuhl noch mithalten kann, das gibt mir viel Selbstbewusstsein. Wenn ich in der Luft bin, vergesse ich alle Schwierigkeiten. Dann gibt es keine zu engen Türen und keine Stufen. Dann bin ich wieder wie jede andere Pilotin in der Luft. Frei.
Bis heute fliege ich mindestens 50 Mal im Jahr. Oft in Kössen, weil das nicht weit von mir weg ist und der Startplatz für mich und mein Gefährt auch super passt. Ich brauche viel Platz und ich muss hinkommen. Oder den Bischling, den mag ich auch gern zum Fliegen. Ach, es gibt so viele tolle Fluggebiete. Zum Beispiel in Tirol das Pustertal, die Hohe Salve im Winter oder auch den Achensee. Ich mag aber auch das Tannheimer Tal mit dem Neunerköpfle oder den Grubigstein bei Lermoos.
Mir ist es superwichtig, dass ich bestimme, wo meine Grenzen sind. Das macht mich viel zufriedener, als wenn ich nur so dahinlebe. Ich finde Menschen ganz schlimm, die sagen: „Das geht nicht!“ Oder: „Das mache ich morgen.“
Ich bin für viele zum Vorbild geworden. Auch wenn ich das gar nicht unbedingt wollte. Nicht nur für Menschen mit Behinderung. Auch für Gleitschirmflieger. Einer hat mal zu mir gesagt: „Ich dachte, heute geht nix, aber jetzt bist du da. Also weiß ich: Es wird super.“ Wenn sie sehen, dass ich mich am Startplatz fertig mache, dann machen sie sich auch bereit. Denn: Wenn ich fliege, dann geht es auch. Da können sie sich sicher sein.
Das Fliegen ist für mich durch den Unfall noch wichtiger geworden. Denn so komme ich überallhin. Egal wo. Auch in den Bergen, wo ich beim Fliegen meinen Mann Peter kennengelernt habe, der ebenso gerne fliegt, kann ich frei sein. Fliegen ist das Wichtigste. Deshalb richten wir unser ganzes Leben danach aus.

NIE ZU ALT FÜR SCHWERE TOUREN
Irmgard Braun, 72
Ohne Klettern wäre das Leben von Irmgard Braun weniger aufregend. Am Fels oder in der Halle durchsteigt sie schwere Touren, auch noch mit über 70.
Ja, ich bin alt. Schon über 70. Aber deshalb mit dem Klettern aufhören? Nein, das ist keine Option für mich.
Klettern ist mein Leben, und das wird auch so bleiben. Ich werde klettern, solange ich Treppen steigen kann. Zwei bis drei Mal die Woche hänge ich in einer Wand, damit mir die Decke nicht auf den Kopf fällt. Gerne in der Halle, weil das im Alltag praktisch ist. Aber auch das Frankenjura mag ich gerne. Und Tirol ist natürlich eine super Ecke. Ich war früher oft in Kufstein im Klettergarten Sparchen. Oder auch in Nassereith. Es gibt in Tirol auch tolle Klettersteige, wie den in Imst oder an der Martinswand und die klassischen Routen im Wilden Kaiser. Dieses Jahr möchte ich zur Geierwand im Ötztal, da war ich noch nie. Das sind um die zehn Seillängen, aber ein kurzer Zustieg. Das finde ich perfekt, weil für meine Knie lange Zustiege nichts mehr sind.
Hätte mir jemand mit 30 gesagt, dass ich mit 70 noch auf dem Niveau des neunten Grades klettere, dann hätte ich das nie geglaubt! Denn eigentlich wurde mir schon mit 31 gesagt, dass ich den Höhepunkt meiner Leistungsfähigkeit erreicht habe. Danach sollte es bergab gehen: mehr Fett, weniger Muskeln und so weiter. Aber das Gegenteil trat ein: Ich wurde immer besser. Mit 53 schaffte ich eine 9+ am Felsen. Das war mir zuvor noch nie gelungen, auch nicht, als ich viele Wettkämpfe kletterte und in der Nationalmannschaft war. Nach der 9+ dachte ich aber wirklich, jetzt ist es vorbei. Aber: Ich habe mit 69 noch mal eine 9+ geschafft. Auch nach mehreren Verletzungen und Pausen. Das war der Hammer und definitiv mein größter Erfolg.
Spätestens seitdem bin ich davon überzeugt, dass man nie zu alt ist, um seine Träume zu verwirklichen. Das will ich anderen mitgeben. Tu einfach, was dir Freude macht, und mach dein Ding – egal, was andere erwarten. Lass dir von niemandem sagen, wo deine Grenzen sind. Und wenn sie es versuchen – einfach ignorieren.
"Eine Woche nach der Geburt war ich wieder beim Klettern - länger hätte ich es nicht ausgehalten."
Ich würde deswegen sagen, dass ich eine Grenzüberschreiterin bin. In vielen Punkten: in der Rolle als Frau, weil ich nie die klassische Hausfrau und Mutter war. Mit 42 habe ich meine Tochter bekommen, mit meinem Mann, der 13 Jahre jünger ist. Eine Woche nach der Geburt war ich wieder beim Klettern – länger hätte ich es nicht ausgehalten. Da haben schon viele komisch geschaut, aber das war mir egal.
Und jetzt, in meiner Rolle als alte Frau, will ich auch nicht den Erwartungen entsprechen, zum Beispiel als Oma, die strickend auf dem Sofa sitzt. Das kostet Mut und Kraft, aber zu merken, dass ich meine Ziele erreichen kann, hat mich stark gemacht und mir Selbstbewusstsein gegeben.
Auch beim Sport suche ich die Grenze und versuche sie zu überschreiten. X-mal Routen im siebten Grad abzuspulen, finde ich langweilig. Ich möchte das Unmögliche erreichen, liebe kniffelige, herausfordernde Stellen. Diese Grenzen zu suchen und immer wieder über mich hinauszuwachsen, war schon immer typisch für mich.
Außerdem hat mich das Thema Geschlechterrollen sehr geprägt: Als ich in den 80ern angefangen habe, waren Frauen Kletterer zweiter Klasse. Maximal als Nachsteigerin war ich erwünscht. Aus dieser Rolle wollte ich ausbrechen, wollte auf Augenhöhe sein. Und nicht die Hausfrau, die auch mal raus darf. Aber Frauen mit Ehrgeiz wurden und werden bis heute eher negativ gesehen. Wenn wir viel trainieren, sind wir gleich verbissen. Und wehe, wir werden besser als der männliche Partner, dann gibt’s bei vielen Zoff. Vor allem am Anfang war das echt schwer für mich. Ich bin heute stolz drauf, dass ich mich nicht unterkriegen ließ, dass ich diese Vorreiterrolle eingenommen habe.
Ich hoffe, dass ich heute Frauen und Männern im Seniorenalter Mut machen kann zu klettern, egal welchen Schwierigkeitsgrad. Die Hauptsache ist die Freude daran.

BABY AM BERG
Sophie Folger, 34, und Louise, 5
Sie lieben die Berge, und das zeigt Sophie Folger auch auf ihrer Instagramseite "alpenbaby", die über 55.000 Follower hat, und ihrem gleichnamigen Blog.
Als ich unerwartet schwanger wurde, haben alle gesagt: "Jetzt ist es vorbei." Ich war auch verunsichert, dachte, wir können vielleicht nicht mehr so in die Berge wie früher. Heute weiß ich: Diese Sorgen waren völlig unbegründet. Man kann auch mit Baby und Kleinkind in den Bergen coole Sachen erleben.
Nach der Geburt gab es einen Hammer-Powder-Winter. Alle waren im Schnee, und ich konnte nicht daheim hocken bleiben. Bei einem Mann mit Baby sagt ja auch niemand was, wenn er auf Skitour geht. Aber ich musste mich vor allem vor meiner Familie verteidigen, war für sie die egoistische Mutter, die unbedingt ihr Ding machen möchte! Aber mein Mann und ich kamen zu dem Schluss: Es spricht nichts dagegen. Warum sollten wir unsere Leidenschaft aufgeben? Die Berge sind unser Leben! Klar, ich musste mich anpassen und einige Dinge verändern, dass es für Louise passt.
Wir haben als Paar zunächst das Schichtsporteln entdeckt. Ich habe Milch abgepumpt, und so konnte ich vier Wochen nach der Geburt wieder in den Schnee. Und entweder mein Mann oder ich waren in der Hütte beim Baby. Als Louise dann älter wurde, haben Oma und Opa sie genommen und wir konnten wieder zusammen los. Heute ist Louise fünf und meine zweite Tochter einige Monate alt, und wann immer es geht, sind wir mit ihnen unterwegs.
"Ich habe schon immer mein Ding gemacht und nicht auf andere gehört. Jetzt ist das nicht anders: Ich hinterfrage die Regeln."
Klar, zu zweit machen wir andere Sachen: 3.000 Meter rauf ohne große Pause. Mit den Kindern ist es eher die entspannte Wanderung zur Alm, und oben gibt es Kaiserschmarrn. Früher zählten für mich Ziele und Höhenmeter. Ich hatte zu Hause eine lange Liste, was ich noch alles machen möchte. Das ist mir jetzt egal. Es geht um das Erlebnis am Berg.
Nach und nach haben wir alle Skeptiker überzeugt, auch weil Louise richtig begeistert war. Viele hatten Angst, dass wir nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen. Aber: Ich würde sie nie pushen oder drängen, möchte ihr beibringen, dass sie auf sich und ihre Grenzen achtet. Und das macht sie super. Aber oft steht sie auch morgens auf und fragt direkt: „Geh’ ma rauf zur Schopperalm oder geh’ ma klettern?“
Mir ist bewusst, dass ich für meinen Sport Prioritäten setzen muss. Ich stehe oft um 5 Uhr auf und mache eine Runde Sport. Dann hatte ich meinen Auslauf und kann auch nur eine kleine Tour mit den Kindern machen. Es ist zudem wichtig, dem Partner zu sagen: Ich geh jetzt allein auf den Berg. Punkt. Die wenigsten Männer würden das von sich aus anbieten, denke ich. Ich habe von Anfang an meine Bedürfnisse kommuniziert und durchgesetzt.
Ich habe schon immer mein Ding gemacht und nicht auf andere gehört. Jetzt ist das nicht anders: Ich hinterfrage die Regeln. Und wenn ich die nicht gut finde, setze ich mich drüber hinweg. Als Mutter bekommst du immer schiefe Blicke, egal was du machst. Also war es mir irgendwann wurscht. Mit der Taktik „selbst Grenzen setzen – und sonst niemand“ bin ich immer sehr gut gefahren. Das will ich meinen Kindern vermitteln: Mach dein Ding! Höre nicht auf andere! Auch nicht auf mich, wenn es sein muss.

HACKBRETT STATT HIP HOP
Christoph Gasser, 10
Andere Kinder verbringen ihre Zeit vielleicht an der Playstation, am Schlagzeug oder an der E-Gitarre. Christoph Gasser aber hat einen traditionsreiches Instrument für sich entdeckt. Sein Lieblingsstück ist die Schnapseinbringpolka.
Ich bin jetzt zehn und spiele seit drei Jahren Hackbrett. In meiner Klasse ist das schon ungewöhnlich. Überhaupt spielen nicht so viele Kinder ein Instrument. Die treffen sich eher zum Fußballspielen, chillen oder schauen aufs Handy. Auf jeden Fall hören sie keine Volksmusik! Für mich ist die Musik wichtig. Ich fühle mich in der Volksmusik daheim. Schon als ich noch ganz klein war, hab ich gerne mit meinem Bruder und meiner Mama Volksmusik im Radio gehört. Meine Mama hat erzählt, dass wir dann immer ganz leise und glücklich waren im Auto und gut zugehört habe
Heute treten wir als Volksmusiktrio auf. Matthias spielt Steirische Harmonika, meine Mama Harfe und ich eben Hackbrett. Ich übe jeden Tag und muss zugeben: Das mag ich nicht so. Aber wenn ich ein Stück dann kann, ist es super. Auf das Hackbrett bin ich gekommen, weil das ein Junge an Weihnachten in der Kirche gespielt hat. Ich war ganz begeistert von der Schnelligkeit. Und ich finde, dass es sehr schön klingt. Ich mag es auch sehr gerne, mit den Händen auf das Instrument zu klopfen. Noten mag ich dagegen nicht so gern. Ich lese sie am Anfang und lerne alles auswendig. Es würde wegen dem Tempo auch gar nicht anders gehen.
Heute bin ich übrigens schon besser als der Junge aus der Kirche. Und mit „Ihr Kinderlein kommet“ kontrolliere ich bis heute, ob das Hackbrett richtig gestimmt ist. Das kann ich mit geschlossenen Augen spielen.
Meine Freunde in der Schule respektieren mein Spiel. Die, die kein Instrument spielen, haben auch gar keinen Zugang dazu. Aber wenn sie es sehen oder hören, sind sie schon neugierig.
Mich motivieren vor allem Auftritte. Da kann ich zeigen, was ich kann. Ich bin schon im Stadtsaal aufgetreten, mit einem Hackbretttrio. Oder bei uns im Gasthaus Canisiusbrünnl in Rum – am Volksmusikabend. Der ist einmal im Monat. Bald trete ich da auch mit der Mama und meinem Bruder auf. Als Familie ist das besonders cool. Auftritte sind auch gut, weil ich schon Geld bekomme. Und ich merke, dass ich durch sie viel ruhiger geworden bin, auch in anderen neuen und aufregenden Situationen.
Ich möchte noch viel besser werden. Schwierigere Stücke spielen, schwierigere Rhythmen, moderne und klassische Lieder. Aber Volksmusik finde ich ein bisschen cooler als Pop. Und ich bin wirklich froh, dass ich Hobbys habe. Manche aus meiner Klasse haben gar keine. Ich glaube, die wissen oft nicht, wie der Tag rumgehen soll. Das wäre mir viel zu langweilig!
Neben der Musik klettere ich gerne, spiele Volleyball und bin im Schuhplattler Verein. Das habe ich mit sechs Jahren angefangen, und wir haben viele Auftritte. Das macht super viel Spaß! Ich mache das auch zusammen mit meinem Bruder. Alle paar Tage stimmt meine Mama das Hackbrett, und sie erklärt mir auch ganz viel anderes. Ich fange bald an, auch Flügelhorn zu lernen, und dann möchte ich unbedingt ein Tenorhackbrett.

BLIND AUF DIE HÖCHSTEN BERGE DER WELT
Andreas "Andy" Holzer, 57
Am Fels fühlt Andreas Holzer seine Einschränkung nicht mehr. Er wurde vor allem in der Öffentlichkeit bekannt, als er als erster blinder Mensch 2017 den Mount Everest bestieg.
Aufgrund einer Erkrankung der Netzhaut bin ich von Geburt an blind. Das heißt aber nicht, dass ich nicht sehen kann. Ich nehme die Dinge um mich herum einfach anders wahr. Es gibt ja zum Glück noch andere Sinne – und die funktionieren einwandfrei. Wenn die Hände an der Wand sind, dann hab ich ein Bild.
Ich bin und war schon überall auf der Welt in den Bergen unterwegs. Als „blind climber“ hab ich die jeweils höchsten Berge unserer sieben Kontinente bestiegen. Aber meine Heimat sind die Lienzer Dolomiten in Tirol. Das ist meine Welt.
Meine Leidenschaft für die Berge begann auch genau hier, als meine Eltern mich mit neun Jahren auf den 2.718 Meter hohen Spitzkofel in den Lienzer Dolomiten mitgenommen haben. Da hab ich gemerkt: Hier bin ich zum ersten Mal nicht unbeweglicher als meine Eltern. Seitdem fühle ich mich in den steilen Felswänden sicherer als sonst wo.
Ich habe schon davor zu meinen Eltern gesagt: „Bitte glaubt nicht, was die anderen sagen. Dass der Sinn nur im Sehen liegt. Bitte lasst mich ein Leben leben wie alle anderen Kinder auch.“ Ich habe dann ganz normal Skifahren, Fahrradfahren oder Eislaufen gelernt. Für diese Möglichkeiten bin ich meinen Eltern unendlich dankbar.
"Ich muss nicht perfekt sein. Wir sind alle nur ein Kompromiss. Bei jedem stimmt irgendwas nicht."
Wenn man etwas über Grenzen wissen will, dann ist man bei mir beim Falschen. Die gibt es bei mir nicht. Grenzen sind nur im Kopf. Ich habe als kleines Kind schon gemerkt, dass die Begrenzungen und Rahmenbedingungen für mich nicht passen, und habe sie über Bord geworfen. Sonst wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Meine Grenzen verschiebe ich ständig, indem ich mich neuen Herausforderungen stelle. Wenn du immer in der zweiten Reihe wartest und schaust, was die anderen machen, dann wirst du die Grenzen nie verschieben.
Natürlich habe ich dabei auch Angst. Aber Angst ist der beste Partner, den ich habe. Sie sagt mir: Bitte Kursänderung, sonst fährst du gegen die Wand. Die Angst muss man nicht besiegen. Das ist ein schlechter Rat der modernen Gesellschaft. Dann hast du deinen eigenen Schutzmechanismus zu Tode gefahren. Angst ist für mich vielmehr eine ganz wichtige Intuition. Ich muss auch nicht perfekt sein! Wir sind alle nur ein Kompromiss. Bei jedem stimmt irgendwas nicht. Die Augen hat der Himmelvater bei mir zwar vergessen, aber ich kann Bilder malen mit Worten. Und er hat mir noch ganz andere Sachen mitgegeben. Die Magie von Musik etwa. Musik zu erzeugen ist einfach ein Traum. Und gratis. Einfach geil.
Es ist ein Unding, das Glück anderer Menschen infrage zu stellen, nur weil sie nicht in das eigene Weltbild passen. Also macht euch keine Sorgen. Bei mir ist schon alles bunt und voller Töne und Klänge. Es ist genial. Ich möchte es nicht anders.
Völlig logisch, dass viele denken, dass Klettern für Blinde zu gefährlich sei. Leider Gottes wird das blinden Menschen eingeredet, und die glauben das dann. Die Wahrheit ist: Klettern ist für blinde Menschen gemacht. Was für euch das Augenlicht ist, sind für uns die Hände. Im aufrechten Gang sehe ich immer nur so weit, wie die Hände greifen können. Aber beim Klettern steige ich dahin, wo gerade die Hände waren. Ein Traum. Wenn ich dann wieder aufrecht gehe, bin ich wieder der Behinderte. Im Felsen sieht man mir das fast nicht an.
Und: Ich kann auch ohne Augenlicht die Berge genießen. Der Impact vom Berg, den ich spüre, ist ganz anders, als sich das die Leute vorstellen. Der Berg ist für mich ein guter Feedback-Geber. Wenn ich alles richtig entschieden habe, dann kann es wirklich sein, dass ich am Gipfel ankomme. Wenn ich einen kleinen Fehler mache, dann gibt mir der Berg zu verstehen, dass ich was falsch gemacht hab. Er ist kein Schulterklopfer, gratuliert mir nicht. Das echte Feedback fasziniert mich. Auch wenn es manchmal hart ist.
Aber ich gehe mit der Gewissheit durchs Leben, dass ich das schon alles packen werde. Genauso wie meine Blindheit. Auch da glaube ich fest dran, dass es schon irgendeinen Sinn hat. Und ich weiß: Jeder trägt den Rucksack, den er verträgt. Ich bin halt kein normaler Bergsteiger. Ich bin nicht komplett. Und ich muss es auch nicht sein. Aber ich werde das Beste draus machen.
