Alpinarium Galtür:
Vieles, nur kein Lawinenhaus

Kurz vor Talschluss weitet sich das Paznaun noch einmal. Die Gipfel der Verwallgruppe und der Silvretta säumen die Ebene. Einer ist über und über mit schwarzen Stichen versehen, ganz so, als hätte man die Kulisse flicken müssen. Sein Name: Grieskogel - jener Berg, von dem sich 1999 die verhängnisvolle Lawine löste, deren Schatten noch heute über der 800-Seelen-Gemeinde liegt. Galtür.
Wir erreichen Galtür an einem sonnigen Apriltag. Die Skigebiete haben seit ein paar Tagen geschlossen, im Dorf herrscht trotzdem regsames Treiben. Beim Bäcker plaudern Einheimische, am Platz davor werden Pflastersteine ausgetauscht, jemand klopft neue Schindeln in die Fassadenverkleidung eines Hotels. Der Luftkurort macht sich frisch für die Sommersaison. Einen kurzen Spaziergang weiter steht das Alpinarium.
Das Museum schmiegt sich an die Lawinenschutzmauer, die seit dem Herbst 1999 vor den Schneemassen des Grieskogels sichert. 325 Meter lang, 19 Meter hoch, fast einen Meter breit. Über 6.000 Kubikmeter Stahl und Beton ‑ das Alpinarium und seine Nebengebäude verdecken sie vorderseitig fast vollständig. Es ist ein Sinnbild dafür, dass die Lawine und ihre Nachwirkungen immer noch präsent, aber nicht mehr auf den ersten Blick erkenntlich sind. Versteckt hinter dem Talent der Menschen in Galtür, aus der Not eine Tugend zu machen.

Wir treffen Helmut Pöll, den Projektleiter und maßgeblichen Mitentwickler des Museums, im Foyer. Zwischen Alabastersteinen dringen ein paar Sonnenstrahlen in den Raum, es wirkt wie in einer Schneehöhle. „Nach der Lawine hat sich die Wildbach- und Lawinenverbauung relativ schnell bei der Gemeinde gemeldet und gemeint, dass man hier unbedingt etwas machen muss, weil sich so ein Ereignis wiederholen könnte“, erzählt Pöll.
Zunächst sollte ein Lawinendamm gebaut werden, da die Errichtung von Stützverbauungen am Berg aufgrund der kurzen Sommer und der Steilheit des Geländes Jahre dauern würde.
Bald war auch klar, dass man nicht einfach nur eine Mauer aufstellen wollte, sie sollte – auf Anregung des Tiroler Architekten Fritz Falch – kommunal genutzt werden. Und weil sowohl die Feuerwehr als auch die Rettung zu kleine Räume hatten und die Bergrettung gar in einem Keller untergebracht war, wurde im hinteren Bereich des neuen Gebäudes ein Sicherheitszentrum realisiert, in dem die Galtürer Blaulichtorganisationen ausreichend Platz fanden. Vor 25 Jahren eine innovative Idee, wie Pöll betont: „Das war damals erstmalig in Tirol. Jetzt wird das fast überall gemacht, weil der Feuerwehrmann ja meistens auch der Bergretter ist. Wieso sollen wir da nicht alles zusammentun?“
Auch beim Alpinarium war Falch Ideengeber und die Entscheidungsträger – allen voran der damalige Bürgermeister Anton Mattle – zeigten sich sofort begeistert. Mattle richtete eine Steuerungsgruppe mit Vertretern vom Land Tirol, der Universität Innsbruck, dem Alpenverein und der Galtürer Bevölkerung ein. Deren Erkenntnis:
„Tirol hat kein Ausstellungs- und Dokumentationszentrum zum Leben im hochalpinen Raum,
probieren wir es doch einmal!“

Während wir den tonnenschweren und trotzdem schwebenden Steinkreis im Eingangsbereich bestaunen, erzählt Pöll mehr über die Entstehungsgeschichte des Alpinariums. Davon, dass manche Galtürer das Geld lieber in eine Liftanlage investiert gesehen hätten, dass viele mit dem Alpinarium anfangs gar nichts anzufangen wussten, von den Turbulenzen, die so ein Großprojekt mit sich bringt. Trotz des Widerstands entwickelte die Steuerungsgruppe die drei Säulen des heutigen Alpinariums: Ausstellung, Forschung und Weiterbildung sowie das Einbinden der Natur in die Innenräume - die Neuinterpretation eines klassischen Alpinariums. Eines sollte das Haus aber auf keinen Fall sein: ein Lawinenhaus.
Natürlich kann man Leben im hochalpinen Raum nicht ohne Lawinen denken. Und Galtür nicht ohne die von 1999. „Das Dorf hat gefordert, dass wir im Haus Information von der Lawine geben, auch, weil die Leute genug von den vielen Fragen hatten und nicht mehr darüber reden wollten“, erzählt Pöll. Und so wurde das Memento, der Raum zum Gedenken an die Lawinentoten, um einen Kinoraum ergänzt, in dem der Dokumentarfilm „Galtür. Ein Dorf im Gebirge“ Antworten zu den Geschehnissen von damals gibt.
Dennoch: Das Überleben im hochalpinen Raum auf Lawinenereignisse zu reduzieren, würde dem Leben in den Bergen nicht gerecht. So führt Pöll in den eigentlichen Ausstellungsraum. Hell ist es hier, aufgeräumt und doch ein bisschen wie im Labyrinth. Verschiedene Gänge und Exponate erlauben den Blick in die Geschichte Galtürs: ins harte Leben in den Alpen, wo nichts Essbares wuchs, die Viehwirtschaft das Überleben sicherte und einzig Enzianwurzeln zu Schnaps gebrannt werden konnten.

Und noch weiter zurück blickt man im Alpinarium: „Wir haben auch Sachen machen können, die wir davor nie gemacht hätten. Das „Silvretta Historica“ zum Beispiel, ein Projekt, wo wir mit den Engadinern und den Montafonern archäologische Grabungen durchgeführt haben“, sagt Pöll. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Aber einen ‚Paznauni‘ haben wir nicht gefunden.“
Die Erkenntnisse über die Geschichte des hochalpinen Dorfs reichen aber auch in die jüngere Zeit. In einer Gegend, die bis 1804 noch als weißer Fleck auf so mancher Straßenkarte verzeichnet war, könnte man vermuten, dass man unter sich blieb. Dass die umliegenden Berge eine unüberwindbare Grenze bildeten, die gerade mal Schmuggler zu überwinden wagten. Doch weit gefehlt! Den Menschen hier waren sie immer schon Brücke in die benachbarte Schweiz und nach Vorarlberg, sie brachten Zinspflicht, Zollrecht und Konflikte um Weiderechte. Die große Armut kam erst mit dem Bau des Arlbergtunnels: Händler nutzten nun die Wege über die Silvrettapässe seltener, der ausbleibende Wegezins zwang Familien, ihren Nachwuchs als Schwabenkinder fortzuschicken, um das Überleben zu sichern. Die Armut hingegen blieb, bis sich nach und nach der Tourismus entwickelte.
Auch davon erzählt die Ausstellung im Alpinarium: wie die Galtürer in die Welt hinaus reisten und ein Stück Welt nach Galtür zurückbrachten: Ablassbriefe, Rentiere, Skier, Alpinisten. Beim Durchblättern alter Hüttenbücher liest man berühmte Namen wie Cenzi von Ficker, Albert Einstein und Ernest Hemingway, staunend folgt man der Entwicklung des Alpinismus im historischen Schnelldurchlauf. Daneben eine Speisekarte aus dem Hotel Rössle, die beweist, dass Kaiserschmarrn und Knödel seit jeher untrennbar mit der Tiroler Gastronomie verknüpft sind – während sich die Währung geändert hat: Kronen und Pfennige, Reichsmark, Lebensmittelkarten und Fettmarken, Schilling.
Galtür hat nicht nur viele Persönlichkeiten empfangen, es hat auch so manche hervorgebracht: den schon erwähnten ehemaligen Galtürer Bürgermeister Anton Mattle beispielsweise, der heute als Tiroler Landeshauptmann, die Geschicke Tirols lenkt. Oder die Familie Lorenz, die über Generationen die Jamtalhütte betreuten und deren Ruf als Bergführerdynastie weit über die Grenzen Tirols reicht ‑ waren sie es doch, die zahlreiche Erstbesteigungen begleiteten.
Das Alpinarium zeigt neben der Weltoffenheit der Menschen aus Galtür auch ihren Eigensinn. Zu einer Zeit, in der Kabelfernsehen noch nicht erfunden war und die Fernsehgeräte noch in Schwarz-Weiß liefen, konnten die Galtürer bereits sechs Sender empfangen. Und das nur, weil sich der Elektrohändler Herbert Sonderegger in den 1970er-Jahren nicht auf das staatliche Fernsehen verlassen wollte. Er fand, „einem Sender kannst du nicht trauen – du brauchst da mehr Meinungen“, und baute in Eigeninitiative eine Sendeanlage.
Freilich reicht der Fokus des Alpinariums auch über den Ortsrand hinaus. Dem Talarzt aus Kappl, Walter Köck, ist gar ein eigener Ausstellungsraum gewidmet. Darin: die Dokumentation des Paznauner „Bergdoktors“ über das Tal und seine Entwicklung vom Bergbauerndorf zur Tourismusdestination, von Feiern und harter Arbeit, akribisch aufgezeichnet über mehrere Jahrzehnte. Festreden, Bildbände und ein altes Funkgerät. Es war ebenjener Köck, dem 1999 als Amateurfunker der erste Kontakt mit der Außenwelt gelang. Da ist sie wieder, die Lawine.
So sehr das Alpinarium die Vergangenheit Galtürs aufarbeitet, so wenig scheut es den Blick in die Zukunft. Gemeinsam mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde die Umweltbildungsstelle Jamtal ins Leben gerufen. Hier wird der Gletscher laufend beobachtet, seine Entwicklung wissenschaftlich aufarbeitet. Am gewonnenen Wissen können auch Schülergruppen teilhaben, die hier während zweitägiger Seminare bis zum Gletscher geführt werden und über seine Entwicklung und Zukunftsperspektiven lernen. Themenwege rund um Galtür und bis zur Lawinenverbauung ergänzen das Angebot.
Am Dach des Gebäudes angekommen, blenden uns die noch schneebedeckten Berge, die Frühlingsluft ist frisch. Pöll zeigt, woher die Lawine kam und wo sie das Dorf mit ihrer zerstörerischen Kraft erreichte. Plötzlich und doch fließend wechselt er das Thema und erzählt von der Wissensvermittlung, die im Alpinarium Platz findet: „Das Land Tirol bildet die Lawinenkommissionen hier zweimal im Jahr aus, weil wir doch im Hochgebirge sind und viel Schnee haben. Auch der Österreichische Alpenverein kommt öfters her, heuer ist außerdem ein Seminar mit Richtern geplant, da geht es um Gebirgsunfälle. So etwas wird erst gemacht, seit es das Alpinarium gibt. Hier können wir das anbieten.“ Während er spricht, löst sich ganz oben ein bisschen Restschnee. Wir schauen kurz und widmen uns gleich wieder dem Gespräch. Lawinen gehören zum Leben im hochalpinen Raum eben dazu.
Weiter unten scheint es, als hätte sich mittlerweile sanftes Gras über die Ereignisse von 1999 gelegt. Vielleicht ist die Fassade des Gebäudes an der Lawinenschutzmauer auch deshalb grün gehalten.

Das Alpinarium Galtür wurde 2003 eröffnet, an der Daueraustellung waren zahlreiche Kreative beteiligt: das junge Schweizer Büro Sollberger Bögli Architekten wagte darin die Neuinterpretation des Begriffs Alpinarium und verlegte das Alpine in den Innenraum, veranschaulicht unter anderem mit dem Steinkreis und der Alabasterfassade. Die Dauerausstellung, gestaltet von Holzer Kobler Architekten in enger Zusammenarbeit mit der Galtürer Bevölkerung, beleuchtet verschiedene Aspekte aus Geschichte und Gegenwart des hinteren Paznauns. Künstlerin Maria Peters schlug für den Raum „Zu Gast“ ihr Zelt im Jamtal auf, um zu malen, zu zeichnen und zu schreiben.
Dem Gedenken an das Lawinenereignis vom 23. Februar 1999 und seine Opfer bieten das „Memento“ mit einem Tryptichon des Galtürer Künstlers Arthur Salner und der Dokumentationsfilm „Galtür. Ein Dorf im Gebirge“ von Lutz Maurer Raum. Seit 2022 wird die ständige Ausstellung durch „Eine Liebeserklärung an das Paznaun“ ergänzt. Sie geht auf Walter Köck zurück, der über Jahrzehnte als Arzt im Paznauntal tätig war.
Die Forschung als dritte Säule des Konzepts für das Alpinarium ermöglichte bisher nicht nur zahlreiche Erkenntnisse zur Geschichte Galtürs (wie etwa zur prähistorischen Besiedelung und dem Sichtbarmachen der Schwabenkinder) sondern in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften auch zukunftsgerichtete Einrichtungen wie die Umweltbildungsstelle Jamtal unter der Leitung von Dr. Andrea Fischer.
Das Alpinarium Galtür ist Träger des österreichischen Museumsgütesiegels, wurde zweimal für den Europäischen Museumspreis nominiert und mit einer Special Commendation der European Museum Academy ausgezeichnet.